Marais hat geschrieben:Also, philosophisch ja, aber natürlich anders als in einer Forendiskussion. Man muss Themen ja in "Geschichten" packen, die Sinn ergeben und auch unterhalten. Aber Geschichten haben auch schon immer tiefgreifendere Zusammenhänge transportiert.
Vieles, was einem in Nehrim als selbstverständlich dargestellt wurde, erscheint mit dieser Ausgangslage plötzlich in einem anderen Licht. Mal schauen, inwieweit ihr das aufgreift. Würde mich generell freuen, wenn das ganze Schwarz/Weiß-Schema aus Nehrim etwas aufgelöst wird und mehr Spielraum für Interpretationen sowohl in die eine als auch in die andere Richtung gegeben wird. In jedem Fall steckt hier eine Menge Potential für eine hochphilosophische Handlung drin.
Gerade bei Nehrim war ja auch die Schwarz/Weiß-Darstellung in einigen Bereichen gewollt. Das ganze Thema der Feindbilder um die Götter nahm ja auch eine große Rolle ein. An der Stelle hat Nehrim ja durchaus polarisiert, für die einen war der Feldzug gegen die Götter löblich, für andere abschreckend: Hey, warum soll ich gegen die kämpfen? Die haben mir doch nichts getan! Natürlich ging es dabei auch um Freiheit, aber eben auch darum wie ein Freiheitskampf totalitäre Züge annehmen kann. Nur wussten wir damals noch nicht, dass man vor allem Motive braucht, um den Spieler von einer "Idee" zu überzeugen - Der Avatar in Nehrim hatte nämlich keinen persönlichen Grund, um sich an diesem Feldzug zu beteiligen. Es wäre sicher eine viel interessantere Position geworden, wenn man einen persönlichen Grund gehabt hätte, die Götter zu hassen, um nach ihrer Beseitigung vor der Frage zu stehen: Ja, sie haben uns beherrscht, aber war diese Herrschaft wirklich so totalitär und unterdrückend dass sie das Blutbad rechtfertigte? Habe ich vielleicht einen Fehler gemacht?
Es ist auch eindrucksvoll, wie sehr Menschen von einer Unterdrückung überzeugt sind (bzw. sie extrem überbewerten), das war ja auch bei Narathzul Arantheal der Fall. Gegen die Unterdrückung zu kämpfen war sein Lebensinhalt. Oh, was wäre passiert, wenn diese Illusion der Unterdrückung zerbricht? Hätte er es überhaupt "zulassen" können dass dieser Lebensinhalt schwindet, selbst wenn die Unterdrückung keine mehr ist?
Oh, so eine Überzeugung von einem bösen Ding da draußen, das ist ne tolle Sache. Volker Pispers hat mal gesagt, mit einem Feindbild hat der Tag Struktur. Fragt man sich, was mit diesem Feindbild überhaupt assimiliert werden soll, so ist es vermutlich die Erfahrung einer enthumanisierten Umwelt, dem einfachen und normalen Selbst inmitten bedrohlicher Mitmenschen, in der es keine Magie oder Zauber gibt, und wo sich niemand so wirklich für einen interessiert. Natürlich kann man dem eine "Bedeutung" zukommen lassen, in dem man einen Grund für diese Situation "sucht", und wer sucht der findet, wird aktiv und bekämpft "Ursachen", die er sich zum Teil selbst zusammengereimt hat. Unterdrückten die Götter die Menschen? Ja. War Narathzuls Sicht auf die Unterdrückung total übertrieben? Auch ja.
Aber was wäre Narathzul Arantheal ohne Feindbild gewesen? Uff, der hätte ja plötzlich mit sich und der Welt auskommen müssen, und könnte das nicht mehr in seiner Wut auf ein externes Objekt ausgleichen. Ganz gemäß der Abschlussszene von Revolver. Wenn man sich mit dem Thema der "Ich-Grenzen" in dem Video und dem oben genannten auseinander setzt (Autonomiebestrebung als Gegenreaktion auf "feindselige" Objekte) sieht man dann auch die Zusammenhänge.
Du merkst, man kann schon in Nehrim entsprechende Interpretationen anstellen und Geschichten eignen sehr gut für solche Überlegungen. Man muss sich auch damit befassen wie Menschen in verschiedenen Lebenssituationen reagieren um Geschichten und Charaktere zu schreiben die irgendwie in Sinn machen. Was meiner Meinung nach nicht funktioniert, ist das direkte Erzählen von solchen Zusammenhängen in Dialogen im Spiel - Typischer Anfängerfehler - Das wirkt aufgesetzt: "Oh, muss das jetzt sein? Ich habe keine Lust auf irgendwelche Moralkeulen". Irgendeinen Typen in die Spielwelt zu stellen der dir irgendeinen Kram von Subjekt-Objekt-Spaltung erzählt wäre einfach furchtbar. Die "Tiefe" muss immer zwischen den Zeilen stehen. Umso größer die Gefahr, dass man sie nicht bemerkt, aber man wird unterhalten und wirklich tragische Geschichten haben ihren Ursprung auch darin dass sie etwas in uns auslösen, das man erstmal nicht direkt benennen kann.
Die Frage ist natürlich ob der vom Autor gedachte Bezug auch vom Spieler als solcher wie gedacht interpretiert wird. Das hat bei Nehrim tatsächlich oft nicht so gut funktioniert. Aber wir haben daraus ja auch gelernt.